Donnerstag, 2. Juli 2009

Die Reise ins Innere des Seins - Teil 2

Nach wenigen Sekunden ändert sich die Welt um Dich herum vollkommen. Deine inneren Sinne überschlagen sich regelrecht: Betörende Düfte unbekannter Pflanzen dringen in Dich ein. Himmelhohe Berge, öde Steppen und üppige Tropenwälder wechseln einander ab. Bald hörst Du fremdartige Musik, die seltsam orientalisch in Deinen Ohren klingt. Schon bald stehen vor Dir mitten auf der Straße einige Kühe und etwas weiter hinten geht gerade eine Herde prächtig geschmückter Elefanten vorbei, auf denen fast nackte braune Männer sitzen. Als Du den Blick auf den Straßenrand richtest, lächeln Dir hübsche Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen zu, die in farbenfrohe Tücher gehüllt sind. Auf der Stirn haben sie einen roten Punkt - kein Zweifel, Du bist bei den Hindus.
Wenig später gelangst Du an den Ganges, den heiligen Fluss, in dem hunderte von Menschen ein Bad nehmen. Sie verehren den Fluss wie einen Gott. Vor lauter Staunen über die Fakire, die mit steinerner Miene auf einem Nagelbrett sitzen, über die Yogis, die seit Tagen in tiefer Meditation bewegungslos verharren und über allerhand Schlangenbeschwörer, Gaukler und Gurus vergisst Du fast, warum Du hierher kamst.
Lange betrachtest Du die zauberhaften Tempel mit ihren Rundbögen, Säulen und Statuen und Du wärest fast wieder in die Welt der Sinne zurückgekehrt, als Dich ein weiser Brahmane in einem weißen Tuch anspricht:
»Du selbst bist ein Teil der Wahrheit - Atman - Teil der Unendlichkeit. Nur deshalb kannst Du sie sehen, die Vollkommenheit des Ganzen - Brahman. Nimm den rechten Weg zu Brahman, wenn Du die Wahrheit suchst. Doch glaube nicht, sie als das ansehen zu können, was sie ist - als das große Eine. Du wirst sie sehen, wie Du es wünscht, als Shiva, als Vishnu, als Krishna - als Gottheit Deiner eigenen Vorstellung. Denn kein Mensch kann das Brahman direkt erkennen.«

Doch Du zögerst auch hier, dem Rat des Mannes zu folgen, denn wenn Du ein Teil der Wahrheit bist, warum sollst Du sie dann nicht als das erkennen können, was sie ist? Warum sollen nur wieder bunte Bilder Deinen Geist betrügen? So wählst Du abermals den anderen Weg und verlässt den Ort der Hindus. Wie von selbst überquerst Du ein himmelhohes Gebirge. Dahinter wandert Dein Geist ganz unbeschwert durch endlose Steppen und karge Wüsten, bis Du schließlich in das Innerste Asiens zu den emsigen, ewig lächelnden Chinesen gelangst. Gleich im ersten Dorf triffst Du auf eine Gruppe Menschen, die auf einem großen Platz stehen und sich im Zeitlupentempo anmutig fließend bewegen. Doch es ist weder ein Tanz - denn keine Musik untermalt das Schauspiel - noch eine pantomimische Vorführung. Fasziniert schaust Du eine Weile zu.
Dann löst sich ein älterer Mann mit einem dünnen Spitzbart aus der Gruppe und begrüßt Dich herzlich. Er liest Dir sogleich Deine Fragen vom Gesicht ab und erklärt Dir, dass das, was Du vorhin beobachtet hast, T´ai-Chi gewesen sei, eine Bewegungsmeditation, die das Einssein mit dem Universum erlebbar machen soll. Und eh Du Dich versiehst, sitzt Du mit dem alten Mann in einem hellen Haus auf dem Boden, wo er Dir vom Tao erzählt:


»Das, was Du siehst, ist nicht das, was es ist. Überall sind Gegensätze. Du siehst das männliche, harte, zerstörende Yang neben dem weiblichen, weichen, erhaltenden Yin. Alle Dinge sind - so scheint es - entweder mehr Yin oder mehr Yang. Doch nur zusammen können sie existieren - zusammengehalten vom ewigen Tao, dem Sinn. Es ist nicht viele, es ist nicht zwei, es ist eins. Das Tao ist die höchste Wirklichkeit und Kraft des Universums, der Grund von Sein und Nichtsein. Das Tao ist wirklich und nachweisbar, doch untätig und ohne Form. Es ist erreichbar, aber nicht sichtbar. Es existiert in sich und durch sich selbst. Obwohl es älter ist als das Urälteste, ist es doch nicht alt. Das Tao tut nichts und läßt doch nichts ungetan. Das Tao ist die Wahrheit, zu der der rechte Weg Dich führt.«

Dein Geist ist verwirrt. Du entschließt Dich, den linken Weg zu nehmen, um zu sehen, wer Dir noch begegnet, um Dir die wahre Wahrheit zu offenbaren.

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