Nach Untersuchungen des amerikanischen Sozialpsychologen Robert Levine auf allen Kontinenten der Erde ist Typ A ein Mensch aus der oberen Bildungsschicht, der getrieben wird vom Gefühl des Zeitdrucks, von Stress und Konkurrenzdenken in hoch- kompetitiven Ballungsräumen. Typ A ist ohne Zweifel ein Opfer dessen, was der italienische Philosoph Giacomo Marramao mit dem Begriff »Zeitsyndrom« als Grundlage der globalisierten Gesellschaft erfasst hat: der wachsenden Diskrepanz zwischen der Inflation an Erwartungen und der fehlenden Zeit zu ihrer Erfahrung. Für Erfahrung braucht man Zeit. Entertainment- und Konsumgüterindustrie arbeiten systematisch mit der Zeitknappheit und mästen sich mit dem Bedürfnis der Menschen nach Erlebnissen: Immer neue Trends verleiten zum Einkaufen, Sonderangebote zum schnellen Kauf (man ist ja nicht blöd!), und irgendwann hat man das Gefühl, immer hintendran zu sein. Die klassische Typ-A-Mensch-Stadt einer M-Zeit-Kultur ist die Singlestadt mit hohem Lebensstandard. Singlestädte ziehen eine hohe Konzentration von Typ-A-Menschen an. Schnelle Menschen erzeugen schnelle Städte und umgekehrt. In schnellen Städten wird zur Stressbewältigung eher geraucht, getrunken und es werden Drogen genommen. Für Typ A, der sich gezwungen fühlt, jeden freien Augenblick zu nutzen und eine frei werdende Zeiteinheit sofort mit Tätigkeit zu belegen, ist die Gefahr des Herzinfarkts statistisch gesehen siebenmal höher als für Typ B, der im Treiben des Seins sich und die Zeit durchaus vergessen kann. Begegnen sich zwei Typ-A-Menschen im M-Zeit-Ballungsraum, verfallen mitunter die Sitten. Man kommt sich ins Gehege. Türen werden nicht aufgehalten, weil das Aufhalten aufhält, und selbstverständlich werden Warteschlangen ignoriert, denn man ist bei sich und außer sich zugleich, man ist in der Zeit, und dieselbe rennt rücksichtslos, und niemand verliert ein Rennen gern freiwillig.

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, Karlheinz Geißler, lebt im Münchner Südosten in unmittelbarer Nähe zu einer Barockkirche mit grünspanschönem Zwiebeltürmchen und hell klöppelnder Glocke. München ist die idealtypische Typ-A-Stadt. Schon im Bahnhof hat man das Gefühl, jemand habe einen Beschleunigungsknopf gedrückt. Auf den Trottoirs, Plätzen und Straßen ist man stets gezwungen, Abkürzungen zu suchen, und ertappt sich beim Fluchen, wenn ein anderer den selbst gewählten Weg kreuzt, was permanent vorkommt. Zeit ist immer auf Raum bezogen, weil Zeit als Bewegung im Raum definiert ist. Wenn mir aus Gründen der Zeitersparnis jemand den Weg abschneidet, erlegt er mir sein Tempo im gemeinsamen Raum auf und verfügt somit über meine Zeit, weil ich mich anpassen und mein selbst gewähltes Tempo verändern muss. Durch sich verdichtende Räume steigt der Grad an Hektik und Stress. Zeitnot ist letztlich Raumnot. Geißler musste die Zeit nie wiederfinden, weil er sie nie verloren hat. Sein Leben lang ist er schon zur Langsamkeit gezwungen, im Alter von fünf Jahren ereilte ihn die Kinderlähmung. Er hinkt. Er wurde Betriebswirt und Pädagoge, begann das Verhältnis von Zeit und Gesellschaft vom Standpunkt des stets Außenstehenden zu analysieren und ist kürzlich von der Bundeswehr-Universität München emeritiert worden. Zu Beginn eines Gesprächs über den Geschwindigkeits-Wahnsinn kocht der Chronist der Beschleunigung Espresso. Espresso – wieder so ein kleiner Held der Temposteigerung im Alltag! Weitere Helden sind Teebeutel, Klettverschluss, Fernbedienung, Thermomix, Suppenwürfel, Fleischextrakt. Die, sagt Geißler, hätten unser Zeitgefühl unmerklich verändert und seien verantwortlich für die enorme Zeitverdichtung der Hoch- geschwindigkeitsgesellschaft und ihre Effizienz-Maximen. Alles muss schnell gehen, ein Typ A kennt das: Mal schnell das fragen, mal kurz jenes machen, mal rasch hierhin. Ja, aber warum eigentlich? Warum kurz, schnell, rasch?
Mehrmals meldet sich das Telefon. Geißler lässt es klingeln, unbekümmert, bis es verstummt. Eine Demonstration in Zeitsouveränität. Darum geht es ihm: selbstbestimmt die eigene Zeit gestalten. Seit es die Räderuhr als pures Messgerät gibt, um sich von der Naturuhr unabhängig zu machen, ist das Naturwesen Mensch zunehmend vertaktet und vermessen worden. »Die Uhr quantifiziert und objektiviert den Menschen«, schreibt der kulturkritische Trendforscher Jeremy Rifkin, »sein Leben wird mit der Uhr gleichgeschaltet, mit den Erfordernissen des Zeitplans und den Diktaten der Effizienz.« Dieses System arbeitet forciert vor allem an der Aufhebung von Verbindlichkeit. Je mehr Verbindungen angeboten werden, desto weniger verbindlich sind sie. Mit der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn Mitte des 19.Jahrhunderts wurde wirtschaftliches Wachstum und somit Wohlstand über wachsende Beschleunigung erreicht. Wobei Wachstum bedeutet, in gleicher Zeit mehr zu tun als bisher oder bisher ungenutzte Zeit künftig ökonomisch nutzbar zu machen, entsprechend dem in kapitalistischen Gesellschaften herrschenden Grundsatz »Zeit ist Geld«, den Benjamin Franklin, Freimaurer, Verleger und Gründungsvater der USA, im 18. Jahrhundert ausgegeben hat. Dieses lineare Beschleunigungsmodell, sagt Präsident Geißler, sei an sein Ende gelangt, da die Temposteigerung von der Eisenbahn über das Auto und das Flugzeug zur Rakete mittlerweile bei der Lichtgeschwindigkeit von 300.000 km/sec angekommen und nicht mehr zu überschreiten sei, weswegen ein neues Paradigma geschaffen werden musste: das der »Vergleichzeitigung«. Mit einem Wort: Flexibilisierung. Enttaktung. Aufhebung der M-Zeit.
Der Paradigmenwechsel drückt sich aus in der Idee der »24-7-Gesellschaft«, der 24-Stunden-sieben-Tage-rund-um-die-Uhr-Gesellschaft ohne Ladenschlusszeiten und Sonntagsruhe. »Pünktlichkeit«, sagt Geißler, »ist zu einer überkommenen Moral-vorstellung geworden.« In der schlaf- und rastlosen Digitalepoche, in der die Zeitzonen zerflossen seien, komme es nicht mehr darauf an, pünktlich, sondern auf den Punkt präsent zu sein. »Multi« ist das Präfix dieser Enttaktung. In der Multioptionsgesellschaft mit multiplen Wahlfreiheiten, multipolaren Effekten, pluralistischen Wertvorstellungen und multifunktionalem Selbstverständnis besteht die große Lebenskunst im Mut zur Priorität. In der enttakteten Zeit wird das Entscheiden zur überlebenswichtigen Strategie. Und natürlich zum Fluch. Im Eigentlichen ist das Entscheiden keine Kunst, sondern eine Nötigung: Um sich entscheiden zu können, wollen Alternativen geprüft sein, wofür es Zeit bedarf, was wiederum Druck ausübt, der schließlich Zeitnot bedingt. Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten einer hat, desto mehr will er realisieren, desto weniger will er verlieren, desto mehr lädt er sich auf, desto weniger Zeit bleibt letztlich, weil nicht geschieden, sondern addiert wird. Der M-Zeit-Mensch, der an kein Jenseits mehr glaubt, packt aus der Kränkung über seine Endlichkeit heraus zwei Leben in eins und verdoppelt das Pensum aus Angst, das Entscheidende verpasst zu haben, bevor er stirbt.
Christian Schüle
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