Als eilkranker Typ A in der M-Zeit-Kultur lebe ich zwar noch nicht im Herrschaftsbereich des Wahnsinns, verringerte aber, ganz nach Vorschlag von Deutschlands führendem Zeitmanagement-Experten, mein wie üblich zu hohes Pensum, setzte Prioritäten, sagte zwei vereinbarteTermine und eine unpassende Verabredung ab (für die ich früher noch ein Zeitfenster geöffnet hätte), schaltete, nachdem ich den »Verein zur Verzögerung von Zeit« abermals nicht erreicht hatte und künftig nicht mehr erreichen wollte, das Handy aus, nahm mir zwei Stunden für ein ruhiges Mahl, staunte über die Anwesenheit vieler verträumter Menschen und fuhr mit dem pünktlich rasenden ICE 690 nach Frankfurt am Main, wo Margarethe Schmidt Sonntag mir eröffnete, sie fasse Zeit jetzt nicht mehr linear, sondern ganzheitlich auf.
7. Etappe: Ein Forscher, der den Kampf um das »Recht auf eigene Zeit« vorhersagt
Ihr gesamtes Leben war nahtlos verlaufen. Immer auf der Überholspur. Kein Bruch, keine Schnörkel. Im Kraftfeld der Beschleunigung. Höchstvertaktet. Pausen? Wozu. Sie kam auf die Welt, um viel zu erreichen. Sie war Führungskraft der Führungskräfte. Mit 42 organisierte sie die Unternehmenskultur von Hewlett-Packard. Das war in den Achtzigern, als die Globalisierung begann und Manager immer schneller Entscheidungen fällen mussten. Sie beriet Unternehmen, coachte Vorstandsvorsitzende, lehrte an Universitäten Arbeitsethik. Sie brachte Managern nachhaltiges Kommunizieren bei und tat es so gut, dass sie nicht dazu kam, ihr eigenes Leben zu leben. Dann kam die Langeweile, und dann die Leere, und dann die Schubumkehr. Margarethe Schmidt Sonntag lebte nicht, was sie lehrte, und als der Körper nicht mehr nur der Träger eines schnellen Kopfes war, sondern dauerhaft zu schmerzen begann, stieg sie um. Nicht aus. Sie setzte über auf ein anderes Gleis. Das war 2001, da war sie 54. Sie arbeitete weiter als private »Lebensunternehmerin«, wählte wenige aus vielen Angeboten aus, instruierte internationale CEOs und widmete sich ansonsten Bauchtanz, New Dance und Trommelkursen. Raus aus der Kopfbezogenheit, rein in den Körper. Schließlich stieß sie auf die musiktherapeutische Pädagogik »TaKeTiNa« und erfuhr etwas Unbekanntes: Rhythmus, ihren Rhythmus. Ihren Rhythmus in Harmonie mit dem universellen, sie tanzte, sang und percussionierte sich in den Raum des Zeitlosen hinein, in Räume, von deren Existenz sie nichts wusste, und sie lernte, sich zu spüren, eine Stunde, drei Stunden, drei Tage. Die Gruppe war mal größer, mal kleiner, sie sangen und klatschten und musizierten und lagen auf dem Boden und trommelten. TaKeTiNa ist keine Therapie, keine Ideologie, nur die Lust auf sich und das Bewusstsein vom Tempo der eigenen Natur. Sie lernte, aus der Gleichzeitigkeit zu fallen und die Atemlosigkeit zu besiegen, und sie drang ins Hier und Jetzt vor, und es glückte ihr, ihrem Kopf zu entkommen.
Gelingt es dem Einzelnen, der Fremdverfügung durch Arbeitgeber oder Gesellschaft entkommend, seine Zeit selbst zu bestimmen, gewinnt er Souveränität über die Zeit. Und durch Zeitsouveränität entsteht Zeitwohlstand. Zeitwohlstand steht im Zentrum der »Zeitpolitik«, wie sie der Politik- und Rechtswissenschaftler Ulrich Mückenberger versteht, der die Forschungsstelle »Time Lab« an der Universität Hamburg leitet. Er plädiert für »Zeitguthaben« und ein »Ziehungsrecht«, für ein bestimmtes Quantum Lebenszeit zwischen acht und zwölf Jahren über die Biografie hinweg, das jeder Einzelne für ureigene Zwecke wie Weltreisen, berufliche Weiterbildungen, Elternschaften, Sabbaticals »ziehen« und aufbrauchen kann, wann immer er will, ohne vom Arbeitsmarkt aussortiert werden zu können. Seit fünf Jahren, so Mückenberger, werde in der wissenschaftlichen Diskussion darüber nachgedacht, inwieweit der Begriff »Zeitwohlstand« die zweite Generation des Sozialstaats begründen könne, der nicht nur materielle Güter, sondern auch Zeitchancen umverteilt. Der Zeitforscher prophezeit einen Kampf um das »Recht auf eigene Zeit«. Die noch junge Disziplin Zeitpolitik klagt das Teilnahmerecht der Bürger an der Zeitgestaltung einer Gesellschaft ein und zielt auf die Entzerrung des stur auf M-Zeit getakteten Arbeitsmarktes. Zeitsouveränität und Zeitwohlstand, Zeitpolitik gegen die mächtigen Ströme der durchgetakteten Gegenwart durchsetzen zu wollen käme zum Mindesten einer kleinen, stillen Revolution gleich.
Da der Mensch nach wie vor ein Naturwesen ist, justiert die Sonne seinen biologischen Takt. »Die soziale Zeit spielt für die Biologie keine Rolle«, sagt Till Roenneberg, der als Professor am Zentrum für Chronobiologie der Universität München vor kurzem eine große Studie über den Einfluss von Licht auf das menschliche Zeitgefühl abgeschlossen hat. Der abgehetzte Mensch tut so, als gäbe es die Biologie nicht, sondern nur den Willen, 24 Stunden zu funktionieren, wobei die gesellschaftliche Organisation der Schul- und Arbeitswelt keine Rücksicht darauf nimmt, dass es ein breites Spektrum an Chronotypen und verschiedene Aufstehzeiten gibt. Wenn Naturzeit und Uhrzeit, biologische Innenzeit und soziale Außenzeit immer weniger synchronisierbar sind, erfährt der Einzelne den, wie Roenneberg es nennt, »sozialen Jetlag«. Dessen Folgen sind chronisches Schlafdefizit, geschwächtes Immunsystem und eine gestiegene Anfälligkeit für Krankheiten. Denk- und Lernfähigkeit sind eingeschränkt, der Mensch fühlt sich unausgeglichen, und der Mangel an natürlichem Licht resultiert in Niedergeschlagenheit und Antriebsverlust. In einem noch so stark kunstlichthellen Büro erfährt der Angestellte höchstens 400 Lux. An jedem noch so bewölkten, regnerischen Tag unter freiem Himmel aber bekommt er 10.000. Der Jedermann-Büromensch erhält also bis zu tausendfach zu wenig Licht pro Tag. Zeitmangel ist Lichtmangel, und wer den Chronobiologen fragt, bekommt zu hören, dass der soziale Jetlag unbemerkt zum Begleiter des Lebens wird, das dann nicht mehr notwendigerweise lang sein muss.

8. Etappe: Vom Luxus, mit der Frage aufzustehen, was heute alles nicht geschehen wird
Die ganze Zeit über nistete im Archiv meines Kurzzeitgedächtnisses ein Satz, der im Verlauf der Zeit-Reise ein Eigenleben bekommen hatte und wie der nervös herausspringende Vogel einer Schwarzwälder Kuckucksuhr mit den Stunden vermehrte Aufmerksamkeit beanspruchte. Bei 230 Stundenkilometern im ICE 72 nach Hamburg versank ich in einer Meditation über den Sinn von Schienen und rief mir das Bonmot des Zenmeisters Thich Nhat Hanh ins Gedächtnis. »Statt zu sagen: ›Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas‹, sollten wir das Gegenteil fordern: ›Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‹« Nach Art der Menschen in Brunei, die morgens mit der Frage aufstehen, was alles heute nicht geschehen wird, verzichtete ich nach meiner Rückkehr darauf, in der Stadt voll Raum- und Zeitnot einkaufen zu gehen, legte mich auf die Couch und tat nichts anderes, als mich dem herrlich nutzlosen Luxus des Liegens hinzugeben. Dann rief ich meinen Neffen an, um mich mit ihm für den Abend zum Kino zu verabreden.
Christian Schüle
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