Freitag, 24. April 2009

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Teil 3

Dieser Mensch ist, sagen wir, zugleich Prokurist, Chormitglied, Kirchenvorstand, Ausschussmitglied, Verbandsvizepräsident, Sportfunktionär, Vater, Ehemann. Seine Frau ist Anwältin, Elternbeirätin, Frauengruppenleiterin, Yogaschülerin, Hobbymalerin, Mutter, Kinderchauffeurin. Die Vergleichzeitung und Gleichwertigkeit vielfältiger Aufgaben wird als »Multitasking« bezeichnet. Abgesehen davon, dass kulturkritische Hirnforscher dem menschlichen Gehirn unterstellen, ab einer bestimmten Impulsdichte und Zäsurlosigkeit den Verstandesdienst zu verweigern, hat niemand dem von der großen Wahlfreiheit überforderten Subjekt das Entscheiden je beigebracht. »Zeitwohlstand«, schließt Geißler, der akademische Zeitforscher, »ist nur durch Verzicht auf Geld zu bekommen.« Geld. Das ist das Schlüsselwort, und es führt direkt zu Ivo Muri.

3. Etappe: Ist der Kampf um die Zeit eigentlich einer Hochkultur würdig?


Zürich, Luzern, Sursee. Raum vergeht, und Zeit fließt dahin, und im Traktat "Die Uhr" lese ich die folgenschwere Sentenz: »Eine Gesellschaft, die keine Zeit hat, lebt nicht.« Wer Zeit verliert, heißt das, verliert Leben. Kann man überhaupt Zeit verlieren? Ivo Muri ist eine Art Privatphilosoph der wiedergefundenen Zeit. Er muss einmal sehr wütend gewesen sein, noch gar nicht lange her, als er über die Fremdbeherrschung des Menschen nachzudenken begann und darüber, dass die Menschheit dermaßen rennt, weil die Zeit zu Geld wurde. Also schrieb er das kleine Buch "Die Uhr". In der Eingangshalle des dreistöckigen Gebäudes seines 1994 gegründeten Unternehmens ZEIT AG Timeware of Switzerland klacken die aufeinander gesetzten Zahnräder einer als Kult- und Kulturobjekt ausgestellten Turmuhr der Jahrhundertwende ungerührt und gnadenlos. Dieses mechanische Monster hält eine erste Lektion bereit: Zeit konstruiert sich durch gezielte Hemmungen selbst. Gäbe es die so genannte Hemmung nicht, Anker und Ankerrad, rasten alle Räder durch. Die große Frage also ist: Wer und was hemmt das Räderwerk der sozialen Zeit, auf dass die Gesellschaft nicht besinnungslos dahinrase?

Es ist überaus schwierig, mit Herrn Muri nicht sofort in Debatten über Macht und Geld zu geraten. »Wer über Zeit herrscht«, ist einer seiner Leitsätze, »herrscht über die Menschen.« Womit klar ist, dass der Mann mit dem weichen Timbre, 47 Jahre, gelernter Betriebswirt, besorgter Unternehmer, auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Allgegenwart des globalen Feudalismus gefunden hat. Der Einzelne sei nicht mehr Herr seiner Zeit, er sei Sklave der bewussten Beschleunigung privat kontrollierter Geldströme. Das ist einer von mehreren subversiven Gedanken, die Muri am Rand des Sursees vor alpiner Kulisse unter einer Trauerweide angeflogen haben. Auffällig ist, dass die meisten, die sich mit Zeitpolitik oder Zeitbewusstsein beschäftigen, erstens vornehmlich in südlichen Gefilden zu finden sind und sich zweitens als links, links geneigt, als Marxisten oder Neomarxisten bezeichnen lassen. Was den Marx-Freund Ivo Muri betrifft, ist es nicht unerheblich, zu wissen, dass seine Firma Software für Zeiterfassungsgeräte herstellt, Stempeluhren im Touchscreenformat zum Beispiel. Die ZEIT AG ist Marktführer in der Schweiz, Jahresumsatz acht Millionen Franken, klassischer Mittelstand, 30 Angestellte. Es ist paradox: Ausgerechnet seine Firma trägt mit der Produktion von digitalen Messgeräten zu jener Beschleunigung bei, die Muri kritisiert. Er weiß, dass er Teil des Wahnsinns ist, dass er mitmacht im großen Spiel. Doch sieht er sich als Prophet im eigenen Land, der aus der praktischen Erfahrung heraus und mit dem durch Zeitwirtschaft gewonnenen Geld das System von innen schrittweise zu verändern beginnt. Er gründete vor vier Jahren ein Institut mit dem Namen Zeit&Mensch. Als Zeit-Gelehrter aus Leidenschaft begann er, Politiker zu beraten, Zeitstrategien für Unternehmen zu entwickeln, Seminare zu geben und mit durchaus verschwörungstheoretischem Charme ein wenig die Welt zu bekehren. Seither zieht er gegen die hemmungslos gewordene Flexibilisierung, gegen die Aufhebung der Grenzen und lokalen Währungen und den »Irrsinn des Freihandels« zu Felde. Der zeigt sich für Muri darin, dass alle am Arbeitsprozess Beteiligten dem Zwang ausgesetzt sind, mehr zu leisten, als die Natur zulasse. Durch die Beschleunigung des Spekulationskapitals unter der absoluten Regentschaft der Shareholder-Value-Ideologie und dem Diktat sprintender Heuschrecken wie der Hedge-Fonds seien Firmenchefs zur Quartalsberichterstattung gezwungen. Sie müssten kurzfristige Erfolge erzielen, um andauernd Rendite bringen zu können. Man hat von den Folgen gehört: Burn-outs, Schlafstörungen, Depressionen, Angst- und Erschöpfungszustände, die mit Kuren zu kurieren wiederum Zeit und Geld kostet. Wo also ist, auf lange Frist gesehen, der Gewinn? Muri und seine Informatiker erfahren die Beschleunigung im Zeitmessgewerbe täglich am eigenen Leib. Werde nicht jedes zweite Jahr auf der Messe etwas technisch völlig Neues angeboten, ernte man im besten Fall ein Lächeln. Um einen Auftrag zu bekommen, erwarteten die Kunden heute vom Anbieter zehn statt wie vor kurzem noch zwei Besuche. Der Auftraggeber gehe selbstverständlich davon aus, dass das bestellte System stante pede geliefert und in drei statt bisher zehn Tagen eingeführt werde. Seit etwa fünf Jahren hätten die berechenbaren Beziehungen zu Stammkunden und Geschäftspartnern abgenommen, was den Druck erhöhe, neue aufzubauen, und zwar ständig. Die Ansprechpartner wechselten permanent, und obwohl alles ausverhandelt sei, werde fast immer nachverhandelt, was viel Zeit koste.

Mit dem E-Mail-Verkehr hätten die Terminanfragen um 50 Prozent zugenommen. Wolle man täglich alle beantworten und täglich alle Termine koordinieren, bleibe keine Zeit zum Nachdenken mehr. Je mehr Vernetzung, desto mehr Koordination, desto stärker der Termindruck, desto größer die Abhängigkeit, desto schwächer die kreativen Kräfte. Wegen des daraus resultierenden Stresses würden die Mitarbeiter öfter krank, die Planung werde schwieriger, gemeinsame Begegnungsräume verkleinerten sich, soziale Bindungen schwänden, eine Kultur der Gemeinsamkeit schaffe sich selbst ab, in Sydney wie in Sursee. Sursee, Kanton Luzern, ist ein adrettes Städtchen mit 8000 Einwohnern und einer Sonnenuhr am spitzgiebligen Rathaus. Überhaupt gibt es hier mehr Sonnen- als Räderuhren, und öffentliche Zifferblattuhren gibt es nach Lage der Dinge nur eine. Alle Viertelstunde meldet sich ein schüchternes Kirchglockenschlägli vom Turm der Stadtkirche St. Georg, und merkwürdig ist, wie der Typ-A-Großstädter, dessen Leben sich in Hast und Hetze eingerichtet hat, beinahe automatisch, jedenfalls unbeabsichtigt zur Ruhe kommt, ohne unterm eigenen Leerlauf zu leiden. Während im Gasthof Hirschen zu Sursee einer der italienischen Köche im Heldentenor eine Verdi-Arie kredenzt, diskutieren wir schließlich die entscheidende Frage: »Ist der Kampf um Zeit einer Hochkultur würdig?« Nach vier Stunden ist noch keine Antwort gefunden, der Wahn der Beschleunigung aber in ein Bild gepackt: Vor 100 Jahren schlachtete man ein Schwein im Alter von drei Jahren; heute kommt ein Schwein in sechs Monaten zur Schlachtreife; extrapoliert man diese Entwicklung in die Zukunft, müsste man im Jahr 2013 ein Schwein schlachten, bevor es geboren ist. Muri will die Zeit und also die Seele und im Eigentlichen das Leben an sich retten. Diesem rastlos agierenden, nie ermüdenden Einzelkämpfer aus Sursee geht es, wie uns allen, ums Banalste und zugleich Wertvollste: Freiheit.

Ich stand nun am putzigen Bahnhof von Sursee und dachte darüber nach, was Muri mir erzählt hatte. »Eine Gesellschaft, die keine Zeit hat«, hatte er zum Schluss geflüstert, »lebt nicht.« Das andauernde Gefühl, nicht das zu schaffen, was man will; das zermürbende Gefühl, unfrei zu sein, getrieben, irgendwelchen Prozessen ausgeliefert, es resultiert letztlich in der Überzeugung von der eigenen Ohnmacht. Wirklich frei ist nicht, wer tägliche To-do-Listen abarbeitet, er macht sich abhängig von der Listenlogik. Frei ist nicht, wer seine Mahlzeiten mit dem Handy am Ohr verschlingt und nach einer Kaufrequenz sucht, möglichst schnell den Mund freizubekommen.
Ich löste einen Fahrschein nach Nürnberg und überlegte: Wenn Zeit nichts weiter ist als eine soziale Übereinkunft, dann müsste man sie ja auch ändern können.


Christian Schüle

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