4. Etappe: Besuch in der langsamsten Stadt Deutschlands
Hersbruck in Mittelfranken, dreißig Minuten nordöstlich von Nürnberg, ist die erste »langsame Stadt« in Deutschland. Wobei man unter langsam nicht das Gegenteil von schnell zu verstehen hat; langsam heißt hier lebenswert und ist ein Qualitätsmerkmal. Die 12.500-Einwohner-Stadt war 2001 der erste ausländische Ort, der sich der aus Italien kommenden Vereinigung »Cittaslow« anschloss – was der Selbstvermarktung dient, aber auch der Hersbrucker Ideologie voll entspricht. Langsame Städte wie das evangelisch-bayerische Hersbruck setzen den globalkapitalistischen Kreisläufen gezielt regionale Kreisläufe entgegen. Handelsketten sind unerwünscht, alteingesessene Betriebe werden bewusst gefördert, historische Flächen aus dem 15.Jahrhundert beweidet, Streuobstwiesen kultiviert. Die Bauern vermarkten direkt, in den Gaststätten kommt, auch wenn das Lamm ein paar Cent teurer ist, nur die »Heimat auf den Teller«. Die Stadt hat vier Erdgasbusse, eine Erdgastankstelle, und wenn ein Begriff alle Hersbrucker Bemühungen auf den Punkt bringt, so ist es jener der Nachhaltigkeit. In der ersten langsamen Stadt Deutschlands wird weder gehupt, noch gibt es mehr als zwei öffentliche Uhren. Von zehn zufällig Angesprochenen haben nur fünf eine Armbanduhr, und obwohl der Bürgermeister eigentlich keine Zeit hatte, geht im Rathaus überraschend ein Fenster auf. »Sie sind ja schneller als der Schall«,sagt Wolfgang Plattmeier und bittet um dreißigminütige Verschiebung des Gesprächs, Regierungsbeamte warteten noch auf ihn.

Der Bürgermeister, ein Roter, ist das Triebwerk der lebenswerten Langsamkeit. »Wir könnten unser neues Thermalbad auch mit deutlich billigeren Hackschnitzeln aus Brasilien oder Tschechien beheizen«, sagt er, »aber wir verwenden ausschließlich Hackschnitzel aus der Region bis zwanzig Kilometer.« Plattmeier, zugleich Erster Vorsitzender der deutschen Sektion der Cittaslow-Bewegung, dem Bewerbungen vier deutscher Städte vorliegen, geht es um nichts weniger denn um gesteuerte Anreize, sich Zeit fürs Nachdenken und fürs Schärfen des Bewusstseins zu nehmen. Er will den Bürger animieren, Zeit qualitativ zu bewerten, nachzusinnen über die Herkunft der Nahrung und die Zyklen der Natur, über Leid und Freud und Geschichte, die in der traditionellen Substanz der alten fränkischen Häuser aus dem 17. Jahrhundert stecken. Programmatisch erklärt der Bürgermeister: »Man muss nicht autark sein, aber Autarkie ist ein genussvoller Luxus, der einen letztlich viel aufmerksamer und sorgfältiger werden lässt.« Natürlich ist Hersbruck vollwertiges Mitglied der späten Moderne. Es gibt Hartz-IV-Bürger, an die 400 Arbeitslose, den üblichen Kirchgängerschwund, und von der Vergreisung der deutschen Gesellschaft macht auch eine langsame Stadt keine Ausnahme. Selbst in Hersbruck kommt es nachweislich vor, dass eine hastende Frau in High Heels ihren Cherokee auf dem Trottoir parkt und zum Schuhmachermeister rennt. Aber wer eine McDonald's-Filiale mit dem Hinweis ablehnt, Fast Food gehe vielleicht schneller, sei jedoch verlorene Zeit, da Harmonie, innere Ruhe und seelische Zufriedenheit beim Essen verlustig gingen (was schließlich einen erheblichen Aufwand an kontemplativem Ausgleich verlange), der muss geradezu stolz sein auf Bürger wie den international erfolgreichen Möbelmacher Herwig Danzer. Der arbeitet in der immer hektischer auf Just-in-Time-Produktion sich abrichtenden Hausbaubranche gezielt mit dem Faktor Entschleunigung. Für seine Massivholzküchen kauft Danzer ausschließlich Kiefern und Lärchen von der Forstbetriebsgemeinschaft aus dem heimatlichen Wald vier Kilometer entfernt. Eingekauft wird nur im Winter, wenn der Frost das Holz getrocknet hat. Seine Säger brauchen fürs Sägen mindestens drei Wochen Zeit, seine zinsfressende Lagerhaltung bringt jeden Steuerberater zur Verzweiflung, weil das Holz so lange Platz belegt, bis es eben gebraucht wird. Das Ölen, Trocknen und Wiederölen der Platten mit Naturharz schließlich erfordert viermal so viel Zeit, wie wenn man es wie üblich spritzte. »Unsere Kunden schätzen den hohen Aufwand, zahlen mehr und warten länger, fahren dafür aber keine teuren Autos.« Der Möbelmacher nennt das »Wertverlagerung«. Erst wer Zeit als solche wahrnimmt, erkennt ihren wahren Wert.
5. Etappe: Bei einem Bauern, der selbst bestimmt, wann es Zeit ist
Die Fahrt von Hersbruck zum Ende der vermessbaren Welt führt an der Forellenzucht Mosenhof vorbei durch den Schlamm jungfräulicher Auen über einige Hügel zum Weiler Vorderhaslach bei Happurg, wo in außerzivilisatorischer Idylle drei bunte Häuser eine Hofgemeinschaft bilden. Der aufgeweckte Hoverat-Collie Finn jagt gern Hühner. Sonst herrscht gesegnete Ruhe. Drei Familien, vier Pferde, acht Katzen, 16 Mutterkühe und 30 Jungtiere leben hier friedvoll beisammen. Dass er an einem sonnendurchtränkten Frühwinterwerktag einfach so dasitzt und mit Gästen aus der Stadt stundenlang Roibusch-Hanf-Tee trinkt, ist der eindrückliche Beweis, dass Uwe Neukamm sich gegen den Wahnsinn entschieden hat. Der »Wahnsinn« ist die Vollerwerbslandwirtschaft. Der Wahnsinn ist die Losung »Wachse oder weiche«. Neukamm will weder wachsen noch weichen. Neukamm, 44 Jahre, Rundbrille und Ohrstecker, ist Biobauer und Sprecher der Demeter-Biobauernvereinigung im Landkreis Nürnberger Land mit über zwanzig Direktvermarktern. »Wir leben ja in einer Welt, die uns immer mehr zwingt, den Rhythmus der Maschinen anzunehmen«, sagt er. Je mehr zeitsparende Maschinen es gebe, desto mehr stehe man unter Zeitdruck. Der spätmoderne Landwirt ist das beste Beispiel. Vor fünfzig Jahren reichte dem Bauern der Einscharpflug, dann kam der Zwei-, dann der Dreischarpflug. Heute braucht man schon einen Zwölfscharpflug, 24-mal so breit, der Traktor dreimal so schnell wie vor fünfzig Jahren. Der junge Großbauer von heute investiert ein Vermögen in teure Maschinen. Bis zu drei Millionen Euro ist sein Maschinenpark wert. Hat der Bauer dadurch mehr Zeit? Geh her! Die Erzeugerpreise für Getreide sind gefallen, liegen tiefer als in den fünfziger Jahren. Gleichzeitig steigen die Kosten für Versicherungen, Reparaturen, Strom und Wasser so stetig, wie der Wettbewerb sich verschärft. Benötigte man 1970 neun Bullen für den Kauf eines neuen Ladewagens und 1990 31, müsste man heute volle 45 aufbringen. Die Umstände zwingen den Landwirt zur Quantität. Quantität bedeutet, größere Felder zu bestellen, wodurch die Landschaft wiederum maschinengerecht gemacht werden muss, auf dass sie einem 300-PS-Traktor bei der Arbeit nicht im Wege stehe. Im Verhältnis zur Nachkriegszeit, sagt Neukamm, sei die Produktivität um das Zehnfache gestiegen, und die Arbeitsbelastung vor allem junger Landwirte habe trotz (oder wegen) der großen Maschinen immens zugenommen.
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