Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Teil 5
Uwe Neukamm hat keinen Ladewagen, er will keinen, und er braucht keinen zu seinem Glück. Glück – das ist, wenn die Zeit reif ist. Das sagt er oft. Wenn die Zeit reif sei, werde er die Flächen mähen; wenn die Zeit reif sei, werde er eine Scheune bauen. Wann die Zeit reif ist, entscheidet er selbst. Seine Maschinen sind ein paar schlappe 10.000 Euro wert. Er vermarktet Holz, Gemüse und vor allem Dinkel direkt und nimmt jährlich 70.000 Euro ein. Am Ende des Jahres bleiben 10.000 übrig. Seine Frau arbeitet halbtags als Sozialpädagogin. Es gibt reichere Menschen auf der Erde. Die Neukamms kommen gut über die Runden. »Die meisten Leute werden von der Zeit überholt und kommen gar nicht dazu, Zeit zu erleben.«
»Wie geht das?«
»Die Zeit einholen.«
»Aber wie?«
»In der Gegenwart leben«, sagt er.
Neukamm hat einige solcher Sätze parat, deren schönster, eine Art Biobauernregel, geht so: »Wenn's regnet, wird's auch wieder schöner.«
Über die Straße rechts, hundert Meter vom Hof entfernt, liegt ein herrlicher, großer Grasacker, auf dem ein Tipi, ein Indianerzelt, steht. Das Land gehört der Hofgemeinschaft. Hier hält ein Heiler aus Bonn regelmäßig Feuerläufe, Healing Circles und Schamanische Reisen ab. Die Teilnehmer kommen aus dem Bürgertum der hektischen Großstädte, Leute, die halbstündlich ihre E-Mails checken müssen, Zeit mit Geld gleichsetzen und aus Sicht von Uwe Neukamm ein spirituelles Leben zu führen nicht in der Lage sind. Das ist die metaphysische Lektion vom Ende der Welt in Vorderhaslach, Fränkische Alb: In der Natur gibt es keine Langeweile. Langeweile ist eine Erfindung der Beschleunigungsgesellschaft, deren Mitglieder fürchten, zu sich selbst kommen zu müssen und Leere zu finden.
Natürlich könnte ich nun sofort von Hamburg nach Hersbruck ziehen, mir am Unteren Markt eine Arbeitsstelle suchen, glücklich in der Langsamkeit blühen, regionale Produkte verzehren und mich allmählich in einen Typ AB wandeln. Was aber, wenn man Pluralismus, Multifunktionalität und Flexibilisierung auch als Segen und Chance begreift? Als neue Freiheit, mit der man eben einfach umzugehen lernen muss? Was also, wenn man nicht gleich aus seinem alten Leben aussteigen will? Die Ratschläge der Zeit-Coaches dafür heißen: Definiere dein Pensum! Formuliere deine Vision! Wirf Ballast ab! Konzentriere dich aufs Wesentliche! Leg dir den Wochen-Kompass zu!
6. Etappe: Warum das Leben schneller vergeht, je älter man wird
Nachdem ich die Gefilde der Langsamkeit vermessen hatte, verging die Reise schneller. Irgendwie. Ich vermag es nicht genauer zu fassen. Ein Gefühl. Die Zeit schien rastlos zu rasen. Sie tat es aber nicht. Was die Uhr betrifft, ging alles mit rechten Dingen zu. Ich saß im ICE von Basel über Freiburg und Offenburg und sah ein, dass es keine gerechtere Ressource als Zeit gibt. Auch wenn sie fliegt oder kriecht, stillsteht oder schrumpft, sich ausdehnt oder verlängert: Zeit ist immer da. Sie weicht nie von sich ab. Jeder hat täglich 24 Stunden zur Verfügung. Warum vergeht dann das Leben schneller, je länger man reist und je älter man wird? Warum hält man Ereignisse für jünger, als sie wirklich sind? Weil, so sagen Psychologen, der Mensch einer Sinnestäuschung unterliegt. Die Zeit scheint schneller zu vergehen, tut es faktisch aber nicht. Zeit bleibt Zeit. Was sich ändert, ist die innere Wahrnehmung von Zeit. Der individuelle Zeitsinn hängt ab von so genannten Zeitzeigern. Zeitzeiger sind für jedes individuelle Leben prägende Ereignisketten in einem bestimmten biografischen Intervall. Oft sind dies emotional stark besetzte Initiationserlebnisse wie der erste Schultag, der erste Kuss, die erste Liebe, der erste Kummer, der erste Studientag, der erste Arbeitstag, die Geburt des ersten Kindes. Zeitzeiger markieren Wendepunkte im Leben und werden als bedeutsam codierte Erinnerung über neurophysiologische Muster im Gehirn gespeichert.
Eine Periode wie die Jugendzeit, die viele derartige Erinnerungen in kurzer Folge auslöst, dehnt sich im Rückblick aus und scheint also länger gedauert zu haben als ein genauso langer Zeitraum, der, wie beim Älterwerden, weniger emotional bedeutende Ereignisse enthält. Je abwechslungsreicher das Leben, lautet der Rückschluss, desto zahlreicher sind die Zeitzeiger und desto schneller vergeht die Zeit in ihrer subjektiven Wahrnehmung. Zeitgefühl ist immer abhängig von der inneren Wahrnehmung von Zeit.
Christian Schüle
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